Besuch 2019
Gerlinde Lidolt besucht Saderlach
Im September 2019 besuchte Gerlinde Lidolt (379a) an 2 Tagen unsere “heutige” Ortschaft. Seit der Auswanderung 1990 war sie nicht mehr in Saderlach. Das sind 30 Jahre! Mit einem Rucksack und in Begleitung eines sehr guten Reiseführers in der Person von Josef Oster durchstreifte Gerlinde die Strassen, den Friedhof, die Kirche und Umgebung. Ein guter Begleiter war die Fotokamera. Sie stellte mir die Bilder zur Verfügung und einige können Sie betrachten. Anbei ein kleiner Reisebericht von Gerlinde. Ich bedanke mich bei Gerlinde! Franz Eisele (203)
Ich saß einfach eine Weile und schaute in die Gegend....
Herkunft – Eine Ortserkundung Im September 2019 machte ich während einer dreiwöchigen Bahn-Tour durch Rumänien auch Halt in Saderlach. Ich war zurück in dem Dorf, in dem ich meine ersten 20 Lebensjahre verbrachte. Ich verließ das Land am 8. März 1990 und hatte es seitdem nicht mehr besucht. Mitte September besuchte ich von Arad aus, an zwei hintereinander folgenden Tagen, das Dorf. An einem Sonntag wurde ich mit dem Auto hingebracht und im Zentrum abgesetzt. Am Tag darauf, einem Montag, fuhr ich mit dem Zug von Neu-Arad nach Saderlach (Billet: 3,9Lei) und wieder zurück. Beide Male war ich stets zu Fuß im Dorf unterwegs, im Rucksack mit dabei zwei Fotoapparaten. An einem frühen Sonntagvormittag steige ich also am „Camin“ aus um nach fast 30 Jahren den Ort, die Straßen, Plätze und das Elternhaus wiederzusehen. Des Weiteren sollte ich im Auftrag meiner Eltern, meinen Onkel Josef Oster, einen Cousin meiner Mutter, der im einzigen Block in der Straßgasse wohnte, besuchen. Es hatte schon im ganzen Land seit mehreren Wochen nicht mehr geregnet und die Sonne scheint gnadenlos von einem wolkenlosen Himmel mit einer Kraft als wäre es noch August. Die Straßen sind still und schier menschenleer, nur vereinzelt zeigt sich ein Kind oder Radfahrer, auch Hunde höre und sehe ich sehr wenige. Als erstes steigt mir in der Herrengasse der betörende Duft der überreifen Pflaumen in die Nase, die massenhaft an den schwer unter ihrer Last sich zu Boden neigenden Ästen herunterhängen. Da es noch etwas früh für einen Sonntagsbesuch ist, mache ich mich auf den Weg über die Herrengasse zur Kirche. Die Kirche ist leider geschlossen, auch im Pfarrhaus ist niemand anwesend, also mache ich mich weiter auf den Weg zum Friedhof. Innerhalb der Friedhofsmauern ist es gleich etwas kühler, aber auch hier kein Mensch unterwegs, nur eine Kuh und ein Pferd, die gemächlich grasen. Die Toten bleiben unter sich. Die Saderlacher „Friedhof-Einsatztruppe“ hatte einige Tage zuvor erst ihre Reinigungsarbeit beendet und so lässt es sich auf dem frisch gemähten Gottesacker querfeldein zwischen den Gräbern wandeln. Die Mauer, die Kapelle, das Kreuz und der Brunnen stehen wie eh und je da und befinden sich in einem gepflegten Zustand – nur lässt sich aus dem Brunnen kein Wasser mehr hochziehen, der Eimer fehlt. Ist der Brunnen ausgetrocknet oder benötigt nur keiner mehr Wasser zum Gießen der Gräber? An den steinernen Grabkreuzen mit den schier für die Ewigkeit gelegten Grabplatten lassen sich noch gut die eingravierten vertrauten Familiennamen ablesen, auf einigen sind gut erhaltene eingerahmte Bilder der Verstorbenen zu sehen, vereinzelt wurde Grabschmuck aus Kunststoff niedergelegt oder ans Grabkreuz gehängt. Es gibt einige neue prächtige Grabplatten mit hohen Säulen statt Kreuzen, mit den Namen rumänischer Verstorbener versehen. Beim Verlassen des ummauerten Friedhofs geht es an teils prächtig-bunt blühenden Innenhöfen vorbei zurück zur Kirche. Auch diesmal ist alles verschlossen. Wie ich später erfahren habe, war der neue Pfarrer mit seiner Familie auf der Neu-Arader „Chilbe“. Als ich an der Grundschule vorbeikomme steht das Tor offen, also gehe ich hinein und sehe die verwitterten Fenster der alten Turnhalle, die verrosteten Stangen im grasbewachsenen Schulhof, an denen in den vielen Pausen über mehrere Jahrzehnte herumgeturnt und gespielt wurde. Das Grundschulgebäude ist äußerlich renoviert und wirkt sehr gepflegt. Gleich gegenüber steht der Rohbau für eine neue Schule, ein Ziegelbau, schon wieder leicht verwittert, mit hohem Gras rundherum, weil die Bautätigkeit seit einigen Jahren bereits eingestellt wurde, wie es mir mein Onkel später erzählte. Nachdem ich den Wohnblock meines Onkels gefunden habe, muss ich diesen erst zweimal umrunden, da ich keine Namensschilder finden kann. Ich weiß auch nicht, wie er aussieht, also bin ich froh als ich einen Mann im Flur antreffe. Dabei frage ich ihn noch auf Rumänisch ob er einen „Oster Iosif“ kenne, er lächelt und antwortet mir mit klarem Saderlacher Dialekt „Du bist doch bestimmt die Gerlinde“, etwas verwundert bin ich schon, denn ich hatte mit ihm vorher keinerlei Kontakt und meine Eltern hatten mich nur vage per Brief angekündigt. Ich bekomme ein kühles Cola zu trinken, wir blättern in seinem Familienalbum im kühlen, penibel aufgeräumten Appartement, das er alleine bewohnt. Er erzählt von seinen Töchtern, seinen Enkelkindern, seinem täglichen Gang zur Arbeit im landwirtschaftlichen Betrieb, der jetzt unter der Leitung von Halaț, einem mächtigen Dorf-Patron, steht. Josef Oster wirkt körperlich fit, auch wenn er schon das Rentenalter erreicht hat, und spricht mit mir im klaren alemannischen Dialekt mit nur wenigen rumänischen Einsprengseln. Es gehe ihm gut, er kann nicht klagen. Ich erzähle ihm von meinem Vorhaben in Richtung Alte Marosch zu gehen, von der ich gehört habe sie sei ausgetrocknet. Er bietet mir seine Begleitung an, da er eh einen Sonntagsspaziergang machen wollte. Er setzt den Sonntagshut auf und wir ziehen los. So gehen wir gemeinsam über die Gabelgasse zur Alten Marosch. Vorbei am ehemaligen alten Wirtshaus – Das neue Wirtshaus steht jetzt gegenüber unserer Kirche und war auch am Sonntag gut besucht. Die Alte Marosch ist wirklich ausgetrocknet, ihr Lauf lässt sich jedoch als grünes Band gut erkennen, da die Vegetation darauf besonders grün und saftig inmitten der Dürre ringsherum heraussticht. Wir gehen unten am Lauf entlang, kommen wieder hoch in den Ort und beschließen, gleich weiter zur Neuen Marosch zu laufen. Am Horizont Richtung Bodrog steht nun ein kleines Neubaugebiet mit einigen einstöckigen Bauten, in dem auch eine Tochter meines Onkels mit ihrem Ehemann ein Haus gebaut hat. Der Weg an den zwei alten großen Bäumen entlang zur Neuen Marosch erscheint mir viel kürzer als in meiner Jugend. Der Fluss nähert sich dem Ort, er „frisst“ sich hindurch und nimmt sich was er braucht. Die Neue Marosch erscheint trotz der langen Dürre gewaltig in ihrem Flussbett. Das Ufer ist hoch und steil. Ob das Baden darin heute gefährlicher ist als früher? Es sind keine Badenden zu sehen. Auch das Schlittschuhlaufen auf der Alten Marosch gehört wohl der Vergangenheit an. Wir gehen den Weg zurück ins Dorf und es fällt auf, dass der Kirchturm überall im Blickfeld ist. Ob Baranya, Friedhof oder Bahnhof – überall lugt das vertraute Erkennungszeichen hervor. So gibt es auch kaum Fotos, auf denen er nicht präsent ist. Auf unserem langen Weg erfahre ich von der neuen Kirchengemeinde. Josef Oster ist Mitglied dieser etwa 10köpfigen griechisch- katholischen Gemeinde. Der Pfarrer, selbst Familienvater - die Heirat ist ihm in dieser Glaubensgemeinschaft erlaubt - wohnt mit seiner Familie im geräumigen Pfarrhaus und hält jeden Sonntag seine Messe. Das Dorfzentrum ist im Zeichen des Wahlkampfs. Das Plakat von Klaus Johannis, dem amtierenden rumänischen Präsidenten sächsischer Herkunft, hängt in amerikanischer Manier riesengroß an zwei Stellen unübersehbar im Ortszentrum in der Straßgasse. Im Zentrum, wo früher Melonen verkauft wurden, steht jetzt wie im wilden Westen eine Bretterbude, in der sengenden Hitze am Straßenrand, in der hauptsächlich gekühlte Getränke, Zigaretten, aber auch Obst und Süßigkeiten bis hin zu Gasflaschen verkauft werden. Autos halten an, die Fahrer machen kleine Besorgungen und sind schnell wieder weg. Da es in den nächsten Stunden keine Zugverbindung zurück nach Arad gibt, organisiert mir mein Onkel innerhalb weniger Minuten ein Auto, das mich wohlbehalten in die Stadt zurückbringt. Bereits auf dem Heimweg beschließe ich am nächsten Tag nochmals zurückzukommen. Diesmal stilgerecht mit dem Zug, hatte ich doch weder Bahnhof noch das Kircheninnere gesehen. Das Treffen mit meinem Onkel war wohl pures Glück, hätte ich ihn doch an einem Werktag tagsüber niemals zu Hause vorgefunden. Vor allem aber verdanke ich ihm dieses einmalige Erlebnis, nochmals die Alte- und die Neue Marosch gesehen zu haben. Ist Josef Oster also der letzte verbliebene deutsche Saderlacher? Die Impressionen und Gespräche mit ihm werden mir erhalten bleiben. Es ist der alemannische Dialekt, mit seiner ganz eigenen Färbung und einem bestimmten Rhythmus, über die lange Zeit in der Diaspora konserviert wie unter einer Glasglocke, der sich auf Lebenszeit festsetzt, egal wie selten die Gelegenheit besteht sich mit einem Gesprächspartner auszutauschen. Es ist die Muttersprache, oder auch die Sprache der Gedanken. Als Geschenk überreicht er mir ein zweibändiges sehr gut erhaltenes antiquarisches Buch von Sebastian Kneipp, noch im 19. Jahrhundert gedruckt. Ich trage schwer daran, ich darf es aber nicht ablehnen – wäre es doch mit seinem Tod unwiederbringlich verloren, wie er sagt. Wer liest hier noch Bücher in altdeutscher Schrift? Am nächsten Tag löse ich also eine Fahrkarte in Neu-Arad. Der Zug ist gut gefüllt, ich stehe im Türbereich und bereits vor dem Foraj werden schon die Türen bei noch hoher Fahrtgeschwindigkeit aufgerissen. Der Schaffner kommt, eine Frau hat nicht genug Geld für die Fahrkarte nach Bodrog – ich helfe mit 1 Lei aus… Am Saderlacher Bahnhof ist die Zeit stehen geblieben. In seinem dezenten Charme leuchtet er im matten Rosa unter dem schattigen alten Baumbestand. Auch der Wartesaal wurde nicht verändert. Ich erfahre, dass immer weniger Menschen zwischen Arad und Saderlach mit dem Zug pendeln. Der Busverkehr ist preiswerter und fährt die Berufstätigen gezielter an ihren Arbeitsplatz. Auf dem Weg zur Kirche komme ich in der Vorstadt an einer Zigeunerfamilie vorbei, die Kinder betteln mich an. Die Situation, angebettelt zu werden, widerfuhr mir erst viel später in Tărgu Neamț nochmals. Ansonsten wurde ich niemals während meiner dreiwöchigen Reise angebettelt. In Rumänien herrscht Bettelverbot. Diesmal stehen die Kirchentüren offen, der Pfarrer Florin Petrovan steht davor und unterhält sich mit den Handwerkern, es finden derzeit Renovierungsarbeiten statt. Ich komme mit dem Pfarrer ins Gespräch. Er berichtet mir, er hätte soeben Staub gewischt und nach den Handwerkern gesehen. Er sei stolz, in solch einer prächtigen Kirche seine Arbeit tun zu können, und er versuche, mit seiner kleinen Glaubensgemeinschaft diesen Bau zu erhalten. Am Altar stehen frische Blumen, das Licht scheint durch die Buntglasfenster, das Haupt- und die Seitenaltäre stehen in ihrer alten Pracht da, die Bilder und anderen Heiligenfiguren sind an ihrem gewohnten Platz. Abgesehen von einigen Heiligenbildern der jetzigen Glaubensgemeinschaft (Parohia Greco Catolică Zădăreni), erscheint alles wie perfekt konserviert. Allein auf dem Chor steht die staubbedeckte Orgel, hier wurde schon lange nicht mehr gespielt. Auf dem Weg zurück zum Bahnhof setze ich mich auf die Bank vor meinem Elternhaus und mache Rast. Es ist nicht mehr die selbe Bank, die mein Vater einst aufgestellt hatte. In meinem Kinderschlafzimmer ist jetzt eine Zahnarztpraxis mit separatem Eingang untergebracht. Vor dem Haus liegt ein dösender Hund. Das Tor ist hoch, die Rollläden heruntergelassen, es sind keine Geräusche wahrnehmbar. Ich habe nicht geklingelt. Als der Zug mich Richtung Arad zurückbringt, wird es schon dunkel. Ich finde diesmal einen Sitzplatz. Vom anderen Ende des Abteils ertönt eine Frage in meine Richtung: „De unde sȋnteți? Sȋnteți din Germania?“ Ich kann den Frager mit der jugendlichen Stimme nicht sehen, aber ich antworte kurz zurück: „Nu, nu! Eu sȋnt din Zădăreni.“ Hätte er mich gefragt: „De unde veniți?“ wäre meine Antwort anders ausgefallen. Aber so viel Differenzierung muss schon sein. Unsere Herkunft können wir uns nicht aussuchen; auch ist die Frage müßig und von der individuellen Sicht abhängig, ob nun alles an einem Ort schlimmer oder besser geworden ist. Es ist auf jeden Fall anders geworden – für Alle die gegangen sind. Der Zufall will es, dass ich mit meinem Literaturzirkel gerade „Herkunft“ von Botho Strauss lese. Daher möchte ich mit einem Zitat von Seite 54 schließen: „Sicher, manches hat sich verändert.“ (…) „Man darf sich nicht von Nebenansichten blenden lassen, der Ort selber blieb doch unangetastet und unantastbar. Es genügt einen Blick auf den Fluss, … .“ (…) „… der Fluss ist noch derselbe geblieben. Er ist und bleibt deine Zeit, dein Zuhause, dein Ort, deine Grenze. Ein Fluss fließt nicht weg. Nur das, was er trägt, kommt und geht.“ (Strauss, Botho: „Herkunft“; Carl Hanser Verlag 2014) Mannheim, 26. März 2020 Gerlinde Lidolt (379)
Anbei der Link zu den Reiseimpressionen von Gerlinde in Rumänien. https://www.rumaenienurlaub.net/gaestebucheintrag-von-gerlinde-lidolt.html